SPURRILLEN


Die Rückkehr in die Sprache

Das
Grundthema meiner fotografischen Konzeption ergibt sich aus der Frage nach der Konstitution des modernen Subjekts im Spannungsfeld von Unterordnung und Ablösung. Es wirft seinen Blick auf das Moment der Wende, das ein Doppeltes darstellt. Einerseits kann es der Umschlag innerhalb des Subjektivationsprozesses vom »Nicht-Identischen« hin zum selbstbewusst handelnden Subjekt sein, das im Geschehen der Welt seinen eigenen Ort findet, andererseits vermag es auch die Rückwendung gegen sich selbst darstellen. Das in dieser ambivalenten Situation sich zeigende Grenzgebiet erweist sich als ein Feld von Beziehungen, in dessen Kräfteraum sich die Frage nach der Umschlagserfahrung entscheidet.

Grundbedingung für die Subjektbildung ist, dass jenes Grenzgebiet selbst und dessen Durchlässigkeit und Überwindbarkeit in den »Blick« kommt. In diese Aufgabe eingebunden gehe ich reflexiv der Frage nach, ob die Fotografie, neben vielen anderen Medien, ebenfalls ein geeignetes Medium darstellt, die Bewegung von Begrenzung und Entgrenzung sinnlich und geistig wahrnehmbar zu machen (Innewerden, Gewahrwerden, Merken, Spüren) und ob das fotografische Bild in diesem Prozess zu einem wirkungsvollen Erkenntnisinstrument avancieren kann. Notwendige Voraussetzung für die Beantwortung dieser Frage ist jedoch zunächst eine Neubewertung der Fotografie selbst als Grundbedingung für die Befreiung des Fotos aus seiner traditionellen Umklammerung. Hierzu nehme ich die diskursanalytische Kritik der Fotografie auf und
behandle Fotografien wie Zeichen.

Im
alltäglichen und vertrauten Sinn ist das Zeichen "etwas, das für etwas anderes steht". Das Zeichen ist so verstanden Repräsentation als Stellvertretung, d.h. es steht für etwas anderes, das selbst nicht anwesend ist (eine Vorstellung oder ein Referent) und das als mit sich selbst identische, vorsprachliche Entität gedacht wird. Zeichen in diesem Sinn stehen unter der Herrschaft und dem Blickwinkel von Kommunikation, die das Zeichen als Transportmedium von kontinuierlichem und homogenem Inhalt versteht. Dem Zeichenträger wird der vom Sender intendierte und im Voraus berechnete Inhalt/Sinn „aufgeschnallt“ (das Zeichen wird informiert) und anschließend auf den Weg zum Empfänger geschickt. Dieser "aufgesattelte" Inhalt ist letztendlich durch den Empfänger vom Zeichenträger abzulesen.

Auf die Fotografie übertragen geht man deshalb traditionell von folgenden Funktionen und Potenzen des Fotos aus:

  • Die Übertragung der sichtbaren, dinglichen Wirklichkeit geschieht aufgrund der physikalischen Berührung mit seinem Referenten. Die Wirklichkeit wird durch Lichtabdruck auf die fotografische Schicht gebannt und durch das informierte Foto zum Rezipienten transportiert. Dieser hat lediglich die Aufgabe, die Information aus dem Foto herauszulesen. Damit empfängt er die Wirklichkeit.
  • Die Übertragung von Sinn, die, nach Konventionen geregelt, eine unabhängig von ihr selbst bestehende Bedeutung verlustfrei transportiert.
  • Die Übertragung von »bewussten« Ideen und Sichtweisen des Fotografen, die seine Ambitionen in der Darstellung und Gestaltung des Fotos beeinflusst haben und die dem Empfänger in der Rezeption deutlich werden bzw. ihn beeinflussen sollen. Vorausgesetzt wird dabei die Möglichkeit, dass der jeweilige Kontext sowohl dem Sender als auch dem Empfänger unmittelbar und im gleichen Maße präsent ist.

Die so verstandene
Fotografie als ein Beförderungsmittel von Wirklichkeit und Sinn setzt also grundsätzlich die Anwesenheit des Senders (Fotografen) und des Empfängers (Rezipienten) voraus, geht von einem beide Seiten überspannenden, abgeschlossenen Kontext aus und ist an die feste Beziehung »Idee/Referent - Zeichen« gebunden. Das traditionelle Zeichen ist damit verwoben mit dem Setzen und Übertragen von Wahrheit oder Bedeutung.

Diskurskritisch gesehen können Zeichen im tradierten Sinn aufgrund ihrer oben beschriebenen Voraussetzungen keine Wirklichkeit repräsentieren, denn die Benutzung (
praxis) des Zeichens geht von einer vorgegebenen, absoluten Gegenwart der Bedeutung des Zeichens aus (Identität). Sie vernachlässigt damit den aufschiebenden und verschiebenden Charakter von Zeichen, der sich notgedrungen im Wiederaneignungsakt des Zeichens einstellt. Die Vorstellung von einer präsenten Identität des Erlebnisses, das im Bild ohne Verlust transformiert werden kann, übersieht den Umweg/Aufschub der zeitlichen Differenz und Andersheit im Bezeichnungsprozess.

Gegen das
positive Vertrauen in die selbstevidente und vordiskursive Existenz und Wahrheit von Zeichen, gegen ihre absolute Selbstheit und Authentizität, steht die Überzeugung von der textuellen, diskursiven und narrativen Hervorbringung von Wirklichkeit durch Zeichen. Die Fotografie wird von mir nicht länger als ein transparentes Medium des Ausdrucks und der Kommunikation von Gedanken gedacht, sondern als eine autonome und unhintergehbare soziale Entität gefasst, die das denkende, sprechende und begehrende Subjekt konstituiert. Das nunmehr anders aufgefasste Zeichen ist dabei folgendermaßen charakterisiert:

  • durch seinen Bruch mit jeglichem Kontext, d.h. es ist semantisch leer;

  • es gibt kein Gesetz, kein Gebot und keine Wahrheit, die vor ihm da wäre;

  • es ist von seinem Referenten abgeschnitten, d.h. es ist in seinem Funktionieren nicht auf einen Rückverweis auf den Referenten angewiesen;

  • es funktioniert unabhängig von der Anwesenheit eines Empfängers und der Anwesenheit eines Senders;

  • es ist differentiell bestimmt, d.h. es erhält seine Bedeutung erst nachträglich als möglicher Effekt durch seine Beziehung zu anderen Zeichen, durch die Struktur des Verweises auf andere Zeichen, die es umgibt;

  • es ermöglicht die Artikulation des Lebendigen am Nicht-Lebendigen.


Der Fotografie kommt es in der Neubestimmung des Zeichens nicht mehr länger zu, von der Evidenz des Sichtbaren Zeugnis abzulegen, sondern vielmehr
eigene Räume der Sichtbarkeit zu produzieren und zugleich die überkommenen und trügerischen Gewissheiten zu stören. Demzufolge ist das Foto aus seiner traditionellen Umklammerung zu befreien, damit es innerhalb von Verweisstrukturen funktionieren kann: Das Foto ist das bloße Setzen der Differenz, die reine Markierung der Differenz, es stiftet den Sinn generierenden Unterschied - es ist eine Spur. Die Spur enthält gleichzeitig Elemente der statisch räumlichen Differenz (die Unterscheidung von anderen) und zeitlicher Prozesshaftigkeit (den zeitlichen Aufschub ihrer Bedeutung), ohne beide jemals gleichberechtigt oder in vollem Umfang verwirklichen zu können. Diese unmögliche Gleichzeitigkeit markiert Derrida mit dem Kunstwort »différance«.

Die Spur tritt hervor in Abwesenheit seines Empfängers und funktioniert in Abwesenheit seines Produzenten (dazu gehört »die Nicht-Anwesenheit seines Meinens, seiner Bedeutungsintention, seines Dieses-mitteilen-Wollens beim Äußern oder Produzieren des Zeichens (marque)« (Derrida).
Lediglich aufgrund seiner differentiellen Beziehung zu anderen Zeichen, d.h. als Teil eines dynamischen Verweissystems, erhält das Zeichen nach-
träglich einen möglichen Wert als Effekt. In diesem Sinn ist das Zeichen weniger Repräsentation als Artikulation.
Sprache wird dementsprechend verstanden als ein differentielles System von Zeichen, in dem Bedeutungen in einem Spiel der Differenzen erzeugt und aufgeschoben, d.h. als immer im Kommen betrachtet werden.

Ich behandle meine Fotografien wie Zeichen und daher sind sie als Sprache zu lesen. Sie sind nicht zu dechiffrieren, denn sie verbergen keinen Sinn oder irgendeine Wahrheit. Meine Fotos geben lediglich Anlass, sie durch Interpretation, durch ihre Einpflanzung in jeweils unterschiedliche Kontexte, zu beleben. Fotografie bekommt dadurch ihren eigenständigen Charakter.

Das Foto als Spur verweist auf das aus dem Foto Ausgeschlossene, ohne es zu repräsentieren. Der durch die Spur ausgelöste Akt des Erinnerns macht Vergessenes und die Tatsache des Vergessens selbst erst bewusst. Das Foto wirkt, es evoziert, statt wesentlich es selbst zu sein. Es entfaltet einen Diskurs im Sinne der Bewegung des Hin-und-her-Laufens, eines Kommens und Gehens, des Webens und Knüpfens (R. Barthes). Darin liegt die prozesshafte Erzeugung von Sinn, der Sinn stellt sich als nachträglicher Effekt von Verknüpfungen ein. Das
der Sprache Spielraum lassende Foto ist nach außen hin souverän, da es als Spur in seinem Fürsichsein losgelöst von der Wirklichkeit Selbständigkeit bewahrt, d.h. keiner äußeren Macht unterworfen ist, die es zwingt, Träger von Sinn zu sein. Es ist souverän aufgrund seines Bruches  mit jeglichem Kontext und mit sich selbst, seiner traditionellen Rolle. Insofern ist das Foto als Spur nicht auf eine berechenbare Wirkung aus und verfolgt kein gezielt hintergründiges und mitgemeintes Interesse. Erst in seiner verschiedenen Interpretation (das Wiedereinschreiben in unterschiedliche Kontexte) gewinnt das Foto als Spur verschiedene Bedeutungen. Darin wird es jeweils zum Leben erweckt, kommt Sprache denkbar zum Ausdruck, schafft die Differenzierung des Be-greifens durch Sprachverschiebung und damit schließlich Sinn und Bedeutung im Denken. Aus dieser Sichtweise ergibt sich eine Neubewertung der Fotografie als reine Foto-Grammatik im Sinne von Jacques Derrida.

Der Begriff »
Rillen« untermauert und konkretisiert im doppelten Sinn die Funktionsweise von Spur, gestützt durch die Freudsche Theorie. »Die Begriffe von Spur, Bahnung und Bahn-ungskräfte [sind] von dem Begriff der Differenz nicht zu trennen«. »Ohne Differenz gibt es keine Bahnung und ohne Spur keine Differenz« (Freud). Die Rille erzeugt im Augenblick ihres Entstehens selber schon eine Differenz, sie teilt die glatte Fahrbahn. Rille ist in diesem Sinn das Synonym für »Bedingung der Möglichkeit vom Weg abkommen«, Differenzen hervorrufen, eingefahrene Sichtweisen stören, das "vom-Bild-weg", Umwege einschlagen, das Aufschieben, Sprung in etwas anderes. Die Rille taucht unverhofft auf und ist nach der Bahnung auch schon wieder verschwunden, man hat sie hinter sich gelassen, sie ist endlich.

Die Gedanken werden durch die Spur aus ihrer tradierten Richtung herausgerissen und, wie durch eine Verwerfung auf glattem Wege, vorübergehend neu ausgerichtet, durch eine sich ereignende Differenzkonstellation auf eine »jungfräuliche« Bahn gesetzt. Das Hineingeraten in eine Rille ist immer mit Risiko und Abenteuer verbunden. Es ist nicht einzuschätzen, wo man schließlich im Verlauf des Spiels der Differenzen landet. Das Erreichen eines Ziels wird fortwährend aufgeschoben. Die Vorstellung eines linearen Gedankengangs auf ein vermeintliches festes Ziel hin ist somit unmöglich. Die Gedanken bekommen den Charakter der Kontingenz, sie bilden ein Gedankennetzwerk, das in/durch seine(r) sich latent ausbildenden Struktur seine Wirkung zeitigt. Die Spur verräumlicht und verzeitlicht die Gedanken, bringt damit Spannung und Bewegung in das Denken, verhindert ein stabilisierendes Identitätsbewusstsein durch den Selbstgenerierungsprozess des Widerstreits.

Das Medium der Fotografie im Kontext des Grundthemas


Die Kraft der Fotos ist, dass sie Auslöser für die Erzeugung von Sinn jenseits der einschränkenden Begrifflichkeit der gesprochenen Sprache sein kann. Dabei geht es um eine Sinnbestimmung, die als Wirkung, als Effekt von Verknüpfungen das Subjekt konstituiert und die diesem nicht äußerlich und fremd erscheint. Es ist gerade jener selbst generierte Mehrwert, der aus der Auseinandersetzung mit dem Foto gewonnen werden kann. Für den Subjektivierungsprozess ist Sinn gleichbedeutend mit »Kraft und Orientierung gewinnen«, Möglichkeit der Subjektwerdung. Über diesen Gewinn hinaus entfaltet sich ein Spiel der Sinndifferenz, das Spiel zwischen der äußeren und der eigenen Sinngebung. In dieser Konfrontation können Grenzen besser wahrnehmbar und mögliche Grenzverschiebungen, die für eine Wende maßgeblich sind, durch die irreduzible Offenheit für Neues und Unerwartetes denkbar gemacht werden. Das Medium der Fotografie hat aus dieser Perspektive heraus gesehen einen berechtigten Platz im Erkenntnisprozess, denn Verstehen bedeutet die Fähigkeit, Verschiedenes zu denken. Dies macht erst den Blick frei für die Einsicht, »dass das, was ist, nicht so sein muss, wie es ist« (Foucault).

Eine diskusanalytische Reflexion zum Medium der Fotografie

Vom Verschwinden der Selbstverständlichkeit in der Fotografie oder das stumme Spiel der Differenzen als Lebendigkeit und Möglichkeit der Sprache

Sie [die Fotografie] kommt nur an, um zu erlöschen.
(Jacques Derrida)

Die Spur ist [die] Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. (Walter Benjamin).

Nicht die Realität wird durch Fotografieren unmittelbar zugängig gemacht. Was durch sie zugängig gemacht wird, sind Bilder. (Susan Sontag)

Ohnehin ist es nicht das Bild, das einen »Diskus führt«. Ein Bild will nichts aussagen. (Sarah Kofman)


Die Fotografie als darstellendes Medium bringt keine Zeichen im traditionellen Sinn hervor, keine Repräsentation von Wirklichkeit und Sinn, sondern innerhalb des fotografischen Diskurses hinterlässt die Wirklichkeit Spuren. Das Foto stellt lediglich eine niedergeschriebene, fotografische Zeit (die Belichtungszeit)
vor der gelesenen Zeit dar. Seine Darstellungsweise ist die offene Re-Präsentation. Erst die Aufnahme, die Fixierung schafft das, was dann als Spur bezeichnet werden kann, mit ihr nehmen das Erscheinen und ihre Bedeutung erst ihren Anfang. Die Bedeutungslosigkeit der Fotografie fordert den Betrachter heraus, das Dargestellte semantisch zu beleben, wobei der Bezug auf einen außersprachlichen Referenten ausgeklammert bleibt. Fotografie als reine Geste ist in diesem Sinne »aufgeschobene Präsenz, nach deren Wiederaneignung man strebt« (Derrida).

Damit stellt das Bereitstellen von Fotografien durch den Fotografen eine Handlung dar, die auf andere Handelnde (die Betrachter) wirkt und ihre Re-aktion einfordert. Es ist die Eröffnung und Entfaltung eines oszillierenden Kraftfeldes. Eine so verstandene offene, nicht auf ein vorgegebenes Ziel und eine globale Strategie ausgerichtete Beziehung ergibt ein lebendiges, dynamisches, sich wechselseitig beeinflussendes Macht-Verhältnis, das vom Gedanken der Führung (Foucault) bestimmt ist, d.h. die jeweils eingenommene Haltung des Fotografen konstituiert sich nicht unabhängig von den vorherrschenden Verhältnissen, in denen er sich schließlich bewegt und auf die er einwirken will. Seine begründete Absicht ist, tradierte Sichtweisen aufzulösen bzw. zu verschieben und als Individuum resistent zu werden gegen jegliche Form der Vereinnahmung durch vermeintlich allumfassend geltende Wahrheiten. Das

Macht-Verhältnis stellt eine im Voraus unentschiedene Auseinandersetzung um die Frage der Fremdführung (Macht/Herrschaft) und Selbstführung (eigenständige Reaktionsweise und Verhaltensform) dar.
Macht wird in diesem Sinne begriffen als eine sich ständig in Bewegung befindliche Beziehung zwischen menschlichen Subjekten, zwischen 'individuellen' oder sozialen Akteuren, sie wird nicht total und einseitig gedacht, sondern ist immer an die 'freie' Handlungsmöglichkeit der beteiligten Subjekte gebunden und produktiv auf neue Erfahrung als Effekt ausgerichtet. Die jeweils konkrete Auseinandersetzung wird wesentlich bestimmt durch die Frage nach der Bereitschaft oder Nicht-Bereitschaft zur »kooperativen Einstellung« der handelnden Akteure in Bezug auf die bereits verinnerlichten kulturellen Wertmaßstäbe. Speziell auf die Fotografie bezogen, geht es in der Machtbeziehung um die Frage nach der Stabilisierung und/oder Überschreitung des vorherrschenden fotografischen Dispositivs.

Das fotografische Dispositiv stellt eine Akzeptanzvorkehrung bezüglich des allgemein vorherrschenden Fotografieverständnisses dar und besteht aus einer Vielzahl unterschiedlicher Elemente wie Aussagen zur Fotografie, Regeln und Praktiken der Fotografie, Institutionen der Fotografie etc. Es koordiniert die Machtbeziehungen innerhalb des fotografischen Diskurses und erzeugt durch sein Wirken ein bestimmtes fotografisches Wissen. Dieses Wissen bringt die sich auf dem fotografischen Feld Betätigenden dazu, sich auf bestimmte Weise zu denken und sich auf bestimmte Weise zu sich und der Welt zu verhalten. Dieses verinnerlichte Denken und Verhalten stützt wiederum das Dispositiv. Das Dispositiv ist somit ein Ensemble von komplexen Vorkehrungen, die den beständigen Umschlag von Macht in Wissen und Wissen in Macht ermöglichen.

Nicht das Zeichen-Geben, sondern das Schreiben im Sinne des
Hinterlassens einer lesbaren Spur bildet den allgemeinen Rahmen für den Gebrauch der Sprache. Alle Sprache, Sprache hier in einem umfassenden Sinn verstanden, ist Bewegung, sie allein ist autonom. Sprache wird nicht länger als ein transparentes Medium des Ausdrucks und der Kommunikation von Gedanken gedacht, sondern als eine unabhängige und unhintergehbare soziale Entität gefasst, die das denkende, sprechende und begehrende Subjekt konstituiert. Zwischen gesprochener Sprache und äußerer Gestik, der geschriebenen Spur, entsteht ein Verhältnis wechselseitiger und unaufhörlicher Beeinflussung und Fortschreibung ihrer Wirkmöglichkeiten.
Fotografien sind als einzelne Einheiten nicht fassbar, sondern müssen als Elemente eines Systems, eines sich ständig neu generierenden Textes gedacht werden. Fotografien funktionieren nur in einem System von Verweisen. Wenn fotografische Zeichen erst in Differenz zu anderen fotografischen und anderen sprachlichen Zeichen Bedeutung erlangen, dann kann Sprache nicht ein endliches und geschlossenes System sein. Bedeutung ist demnach nicht mehr und nicht weniger als eine relative Größe in einem unbegrenzten System und sie findet nirgends einen gesicherten Bezugspunkt in der "Realität". Der Betrachter von Fotografien wird so zum aktiven, experimentell Erfahrung machenden Kinogänger seines mentalen Archivs und möglicherweise seines blockierten Begehrens, den Rest, der im Subjektivationsprozeß reflexiv nicht vollständig und abschließend verdrängt werden konnte. Das Subjekt taucht in diesem Prozess als Effekt hervor.
Jedes fotografische Zeichen trägt wegen der Zitatförmigkeit von Fotografie immer Vergangenes und Zukünftiges in sich und weist so über den Moment des reinen Darstellens hinaus. Ich zeige immer mehr als ich meine, weil ich immer Bedeutungen mit aufrufe, die bereits lange vor mir existierten, und ich kann nicht wissen, was in Zukunft mit meinen Fotos passiert. Vor allem bestimme ich nicht diese Bedingungen der Darstellung. Sondern eben diese uneindeutigen, zerstreuten und vielfältigen Bedingungen von Fotografie ermöglichen meine Darstellungen. Ich argumentiere mit Foucault, dass es keinen Ort außerhalb der Macht gibt, d.h. dass ich mich grundsätzlich als Handelnder darum bemühen muss, die vorherrschenden Machtbeziehungen, in denen ich mich unwillkürlich befinde und bewege, zu analysieren, um mich in diesem Feld der Auseinandersetzungen zurechtzufinden und in ihm eine eigene Haltung einzunehmen. Die mein Interesse weckenden, verschiebenden fotografischen Praktiken können also nur im Rahmen des fotografischen Dispositivs, deren tradierten Gesetze und Normen stattfinden, die diese zugleich ermöglichen und beschränken.

Es geht darum, die »gesellschaftliche Macht als Bedeutungsmacht« zu entkräften indem dieser Macht »das Denken der Sprache« entgegen gesetzt wird.

Das wesentliche Merkmal der traditionellen Fotografie, das seine jeweilige Akzeptanz ermöglicht, ist ein Paradoxon bezüglich des
Referenten: der fotografische Prozess besiegelt seinen Tod (das Foto existiert nur noch als dessen Stellvertreter) und der Erschließungsprozess des Betrachters dessen »lebendige« Wiederauferstehung durch die metonymische Ausstrahlung, eine auf Kontiguität beruhende Substitution. D.h., dass aufgrund der physikalisch bedingten Berührungsbeziehung (von Referent reflektiertes Licht "berührt" im Augenblick der Auf-nahme die fotografische Schicht und wird von dieser gespeichert) Ursache und Wirkung im Prozess der Vergegenwärtigung vertauscht werden. Der tote/leblose, aber sichtbare Referent auf der Fotografie wird mental als lebendiger Referent gesehen/erlebt, da der Berührungsmoment bei der Betrachtung der Fotografie im Hintergrund "unbewusst" aber beherrschend mitschwingt. »Die metonymische Kraft spaltet den referentiellen Strang auf, sie suspendiert den Referenten und bewirkt, dass er begehrt wird, aber behält doch die Referenz bei. …sie betrauert das Schicksal und beschwört es doch herauf« (Derrida). In dieser Beziehung ist die Funktion des Fotos, den Referenten zu stabilisieren, d.h. ihn so auszurichten, dass er als wiederholbarer und wiedererkennbarer Sinn erscheint ‑ das Foto als Zeichen seiner Präsenz und Identität.

Doch gerade die Diskontinuität der Fotografie, die technisch bedingte Unterbrechung zwischen Aufnahme und Betrachtung der Fotografie (das fotografische Ausschneiden des Gegenstandes aus seiner Umgebung und das anschließende Lesen/Wiederaneignen in einem anderen Kontext) bringt notwendigerweise immer Vieldeutigkeit (Polysemie) hervor
und hat besonders die Fähigkeit, Bedeutungen zu streuen. Diese Wirkung wird in meiner Fotografie strategisch und produktiv genutzt und dadurch verstärkt, dass ich versuche, die gewohnte und geprägte Bezugnahme des Betrachters auf den Referenten als Wirklichkeitsbezug, seine nachträgliche Wiedererweckung, zu unterlaufen. Zum einen dadurch, dass ich den die Rezeption des Betrachters beherrschenden Referenten durch den fotografischen Prozess verfremde und damit entmaterialisiere. Zum anderen befördert die Anordnung von einzelnen Fotografien zu einem Tableau eine weitergehende Zurückdrängung des Referenten. Es ist infolgedessen unmöglich, für das Erfassen des Tableaus einen diskursiven Schlüssel anzubieten oder ihm gar den roten Faden einer Geschichte einzuziehen. Täte man es, so würde man den Erscheinungen eine einzige Bedeutung aufnötigen und den Rezipienten so an seiner freien Entfaltung des Denkens hindern. Die sich neu ergebene, offene Verweisstruktur ermöglicht gerade eine Intensivierung der inhaltlichen Füllung durch den Betrachter in seiner Auseinandersetzung mit den sensuellen Daten aus der Wirklichkeit. Damit ereignet sich das Tableau als Spur, als Bedingung der Möglichkeit, Bedeutungen nachträglich als deren Effekt zu generieren, sie als stets im Kommen zu erfahren.

»Die Spur [bezieht] sich weniger auf die sogenannte Gegenwart [die unmittelbare Präsenz, Anm. K.B.], als auf die sogenannte Vergangenheit, und durch eben diese
Beziehung zu dem, was es nicht ist, wird die sogenannte Gegenwart konstituiert« (Derrida). Erst durch diese Art der Vergegenwärtigung verwandelt sich das Foto (Picture = Spur) zu einem Bild (Image = das gedächnisdurchtränkte, inszenierte Foto als Effekt), zu einer lebendigen Metapher, zu einer »Geburt aus toten Vorstellungen« (Derrida). Der positive Gehalt des Fotos, sein Bild wird allein aus der Entgegensetzung, der Unterscheidung gegen Anderes bezogen.


Das Foto entwickelt erst im Gebrauch, im Akt des Denkens, im Weben der Erinnerungen seine Kraft, die hervorgerufen wird durch das Auftauchen seiner Duplizität, durch das Oszillieren zwischen Präsenz und Absenz, Aura und Spur, Ferne und Nähe, Übertragung und Reproduktion, Verschwinden und Ankommen, studium und punctum. Hierin kristallisiert sich die Zeitlichkeit des Fotos heraus, die das Kommen des Bildes ausmacht.
Die Wiederholung, das Kennzeichen der redundanten Fotografie, bewahrt das Präsente, hebt es in die Identität und zerstört die absolute Selbstdarstellung im Spiel der Differenzen, sie raubt der Fotografie ihren Atem. Es muss der an die Tradition gebundenen Fotografie – ihrer triebhafte Sehnsucht nach Präsenz ‑ grausam erscheinen, wenn das in meinem Verständnis hervorgebrachte Foto/Tableau zur negativen Geste, zu einem Element eines Spiels herabgestuft wird. Doch als positive Wende verstanden, wird der lebendige Bildkörper nur in dieser Radikalität zurückgewonnen gegen seine trügerische Unmittelbarkeit und gegen seine beherrschende Absicht, Träger von Sinn zu sein. Es ist die Rückkehr in die Sprache. Die Spur hat keine Bedeutung und kann auch nicht im Voraus festgelegt werden. Sie dient lediglich dazu, Signifikanten als verschwindende »Kristallisationskeime« ins Spiel der Differenzen zu bringen, den Prozess der Semiose überhaupt erst einmal auszulösen.

Die Spur ist die allgemeine Bedingung der Sprache insgesamt,
des Denkens der Sprache in Raum und Zeit.



© " Klaus Benhof " 2006